Die Geschichte vom Zweiäugigen / Ab 8 Jahren

Alter: ab 8
Gruppengröße: je nach Diskussionskultur
Dauer der Aktion: 40 Minuten
Material: Geschichte und Diskussionsfragen
Zu erwartende Kosten: keine

Ziel: Sensibilisierung für Vielfalt als Normalität

Umsetzung: Vortrag der Erzählung, Gespräch über erste Eindrücke und das Gefühl des Andersseins

Mögliche Impulsfragen
:
Wie, glaubt ihr, war es, als Zweiäugiger auf einem Planeten der Einäugigen zu leben?
Wie könnte es sich anfühlen, wenn man das Gefühl hat, anders als die anderen zu sein?
Welche Probleme könnten sich für den Zweiäugigen ergeben haben? Und warum?
Was für verschiedene Fähigkeiten haben Menschen auf unserem Planeten?
Wie wäre es, wenn wir an einem anderen Ort der Erde leben würden? Würden uns die Menschen als „anders“ betrachten? Warum?
Wie wäre es, wenn wir hier in Deutschland, aber in einer anderen Zeit, leben würden? Gibt es Dinge, die früher negativ, als „nicht normal“ betrachtet wurden, die heute aber „normal“ sind?

Die Geschichte vom Zweiäugigen

Weit, weit draußen im Weltraum gibt es einen Planeten ganz wie die Erde. Die Leute auf diesem Planeten sind beinahe genau wie wir, bis auf einen Unterschied: Sie haben nur ein Auge. Aber das ist ein ganz besonderes Auge. Mit ihm können sie im Dunkeln sehen. Sie können auch Dinge sehen, die sehr weit entfernt sind. Ja, mit diesem Auge können sie sogar durch Wände schauen.

Eines Tages wurde auf dem Planeten ein sehr merkwürdiges Kind geboren: Es hatte zwei Augen! Seine Eltern waren sehr betroffen. Der kleine Zweiäugige hatte es gut zu Hause. Die Eltern liebten ihn und kümmerten sich sehr um ihn. Aber sie machten sich auch große Sorgen wegen seiner Sonderlichkeit. Sie gingen mit ihm zu vielen verschiedenen Ärzten. Aber die Ärzte schüttelten nur den Kopf und sagten: „Leider kann man da überhaupt nichts machen.“

Als der Zweiäugige größer wurde, bekam er mehr und mehr Probleme. Wenn das Tageslicht verschwand, brauchte er künstliche Beleuchtung, denn seine beiden Augen konnten nicht im Dunkeln sehen. Als er zur Schule kam, konnte er nicht so gut lesen wie die anderen Kinder und brauchte extra Hilfe von seinen Lehrerinnen. Er konnte auch nicht so weit sehen wie die anderen. Nur mit Hilfe eines Fernrohrs, das ihm seine Eltern anfertigen ließen, konnte er zu den anderen Planeten schauen wie alle anderen. Manchmal, wenn er von der Schule nach Hause ging, fühlte er sich sehr einsam. „Die anderen Kinder sehen Dinge, die ich nicht sehe“, dachte er. „Vielleicht gibt es auch etwas, das ich sehen kann, aber sie nicht.“

Und eines Tages entdeckte der Zweiäugige tatsächlich etwas, das nur er sehen konn¬te: Er sah nicht nur schwarz und weiß wie alle anderen. Er brauchte lange, bis es ihm gelang, seinen Eltern zu erklären, wie er die Welt um sich wahrnahm. Die Eltern staunten! Auch seine Freunde waren beeindruckt. Er erzählte ihnen wunder¬volle Geschichten, mit Worten, die sie nie zuvor gehört hatten. Worte wie „rot“, „gelb“ und „orange“. Er sprach von grünen Bäumen und violetten Blumen. Alle wollten hören, wie er die Dinge sah. Er beschrieb tiefblaue Meere und Wellen mit weißen Schaumkronen. Die Kleinen liebten besonders seine Geschichten von den fantastischen Drachen. Sie hielten die Luft an, wenn er deren schillernde Schuppen beschrieb, die gold glühenden Augen und den feurigen Atem.

Schon bald war der Zweiäugige überall bekannt und die Leute kamen von weit her, um seine fantastischen Geschichten zu hören. Als er älter wur¬de, verliebte er sich in ein Mädchen. Ihr machte es nichts aus, dass er so merkwürdig aussah. Und schließlich wurde ihm bewusst, dass es ihm auch nichts mehr aus¬machte.

Nach einiger Zeit bekamen die beiden einen Sohn. Genau wie alle anderen Kinder auf dem Planeten … hatte er nur ein Auge.

Quelle: Servicestelle Menschenrechtsbildung (nunmehr Zentrum polis) (Hg.): Behindert oder Diskriminiert? Menschen mit Behinderungen, Teaching Human Rights, Nr. 16, September 2003.

Erweiterung: „Jungemädchen/Mädchenjunge“
Alter: ab 10 Jahren

Ziel: Thematisierung des Phänomens Intergeschlechtlichkeit

Geschichte: Jungemädchen/Mädchenjunge

Ich bin nicht als Mädchen oder Junge auf die Welt gekommen, sondern als Mädchenjunge oder Jungemädchen . Ich hatte bei meiner Geburt eine Scheide und ein Glied, beides ungefähr halb so groß wie bei anderen Neugeborenen; halb halb. Daran kann ich mich natürlich nicht erinnern, weil ich erst kurz auf der Welt war, aber es wurde mir später, als ich ca. 9 Jahre alt war, erzählt. Meine Eltern und die behandelnden Ärztinnen oder Ärzte wollten, dass ich entweder ein Mädchen oder ein Junge sei. Dabei war ich dazwischen – Inter – heißt auf lateinisch dazwischen. Ich war ein Intersex-Kind.

Stell dir vor, ich hätte jeden Tag entscheiden können, ob ich heute ein Mädchen oder Junge sein will. Ob ich Karla oder Karl heiße, Johanna oder Johannes. Meine Eltern haben mich Lara genannt und die Leute im Krankenhaus haben mich so lange operiert, bis ich keinen Penis mehr hatte. Stell dir vor, ich könnte mir aussuchen, auf das Klo zu gehen, wo die Schlange kürzer ist, oder ich könnte im Sport in der Schule aussuchen, ob ich lieber bei den Jungen mitturne oder bei den Mädchen, je nachdem, welche Gruppe zum Beispiel Fußball spielt und welche Geräteturnen macht. Stell dir vor, ich könnte mich in Mädchen und Buben verlieben und dabei selber ein Mädchen oder Bub sein. Stell dir vor, ich könnte beim Pinkeln entscheiden, wo der Urin herauskommen soll. Stell dir vor, meine Lehrer und Lehrerinnen wüssten nicht, ob ich ein Junge oder Mädchen bin. Stell dir vor, das wäre aufregend und würde mich glücklich machen. Stell dir vor, es wäre belastend und würde mich unglücklich machen. Das hätte ich gerne selber entschieden. Stell dir vor, ich würde mit dem Intercity nach Interlaken fahren und dort im Internet surfen, bis ich andere Intersexuelle kennenlerne. Stell dir vor, wo zwischen ich alles sein könnte. Zwischen Hier und Dort, zwischen Kalt und Heiß, zwischen Nord und Süd, zwischen Wachsein und Schlafen, zwischen meinen Eltern, zwischen meinen Freundinnen und Freunden, ich wäre nie mehr allein.

Quelle: www.selbstlaut.org/_TCgi_Images/selbstlaut/20130718152344_Ganz_Schoen_Intim_Juli2013.pdf